Howard Carter kam am 9. Mai 1874 in London zur Welt und erbte von seinem Vater, einem Künstler, das Talent zum Zeichnen. Dieses Talent führte ihn bereits mit 17 nach Ägypten, wo er Archäologen bei der Dokumentation von Grabfunden half. Von da an ging es mit seiner Karriere als Ägyptologe steil bergauf: Von 1893 bis 1899 war er für die Dokumentation der Reliefs und Inschriften des Totentempels der Königin Hatschepsut in Deir el-Bahari verantwortlich. Danach, zwischen 1899 und 1905 arbeitete er als Chefinspektor für die Altertümer, zuerst in Ober- und dann in Unterägypten. 1909 schließlich begann er mit Ausgrabungen im Auftrag von Lord Carnarvon. Daraus entstand eine langjährige Zusammenarbeit, deren Höhepunkt zweifelsohne die Entdeckung von Tutanchamuns Grab im Tal der Könige im November 1922 war. Die Arbeiten an diesem Grab dauerten bis 1932 an. Es handelte sich um den bedeutendsten Fund in der Geschichte der Ägyptologie, was nicht nur Bewunderung, sondern auch Neid hervorrief und sogar dazu führte, dass Carter unmoralische Praktiken vorgeworfen wurden. Unter anderem wurde behauptet, er habe die unten erwähnte Büste „Kopf auf der Lotusblüte“ für sich selbst behalten wollen. An dieser Stelle bekommt Howard Carter in einem fiktiven Interview die Möglichkeit, auf die Anschuldigungen zu reagieren. Er starb am 2. März 1939 in London.
Für mich repräsentiert ein Gegenstand in der Ausstellung „Tutanchamun – Sein Grab und die Schätze“ viel von dem, was sich über die gesamte Entdeckung sagen lässt. Es ist ein relativ kleiner und einfacher Gegenstand und könnte in all der Pracht und dem Glanz leicht übersehen werden. Natürlich findet sich in der Ausstellung nur eine Nachbildung. Das Original ist aus Holz, das mit einer dünnen Schicht Gips überzogen und mit leuchtenden, fast schon grellen Farben bemalt wurde. Es ist die Büste eines ansehnlichen jungen Mannes, der noch in der Pubertät zu sein scheint und dessen Aussehen und Größe eher an ein Kind erinnern. Der Kopf befindet sich auf einer Lotusblüte, auch wenn er dort etwas deplatziert erscheint. Der Schädel ist auffallend lang, ganz so, wie man es von den Mitgliedern der Amarna-Familie kennt, vor allem von den Töchtern des Königspaares Echnaton und Nofretete. Er wirkt bescheiden, aber selbstsicher, und ganz anders als die distanzierten und hoheitsvollen Gesichter auf den Särgen. Auch das hochmütige und leicht verächtliche Lächeln, das man von der goldenen Maske kennt, fehlt. Das Arrangement befindet sich auf einem runden Sockel, wie man ihn von alten Tischlampen kennt. Die auf den ersten Blick ungewöhnliche Kombination der beiden Elemente lässt sich ganz einfach erklären: Die Lotusblüte steht für die Wiedergeburt und die Büste zeigt den Moment, in dem die für den Eintritt ins Jenseits vorgeschriebenen Bestattungszeremonien beendet wurden und der Verstorbene sich – gleich einer Lotusblüte, die den Fluten des Nils entsteigt – in sein neues Dasein erhebt. Solche künstlerischen Darstellungen abstrakter Ideen sind typisch für das Ägypten jener Zeit, dieses Konzept ist in den meisten der Funde aus Tutanchamuns Grab zu erkennen. Das Kunstwerk enthält zwar keine Inschrift, allerdings steht fest, dass es sich um Tutanchamun handelt, auch wenn man nicht weiß, wie wirklichkeitsgetreu es ist. Mit Sicherheit jedoch zeigt es den König so, wie er dargestellt werden sollte – mehr als das können wir über keinen der ägyptischen Pharaonen sagen.
Wie über so vieles, was mit Howard Carter und Tutanchamuns Grab zu tun hat, wurde auch über diese Büste viel diskutiert. Und mehr als jedes andere Fundstück aus dem Grab sorgte sie – ungerechtfertigterweise – fast von Anfang an für negatives Aufsehen. Der genaue Fundort wurde hinterfragt und es wurde sogar die Vermutung geäußert, sie stamme gar nicht aus dem Grab. Von anderer Seite wurde Carter wiederum unterstellt, er habe die Entdeckung der Büste verschweigen wollen. Für einen Archäologen so ziemlich die schlimmsten Vorwürfe, denen man ausgesetzt sein kann. Ach hätte man nur die Möglichkeit, ihn selbst zu einigen Details zu befragen, vielleicht könnte man dann alles aufklären! Doch leider, leider ist das nicht mehr möglich. Oder vielleicht doch? Vielleicht grenzt mein Interesse an dieser Geschichte fast schon an Besessenheit, aber letzte Nacht, zu der Zeit, in der die Dunkelheit dem Licht weichen muss und man nur schwer zwischen Traum und Realität unterscheiden kann, habe ich ein Interview mit Howard Carter geführt. Jetzt, im kalten und unbarmherzigen Tageslicht eines Wintermorgens, ist mir klar, dass es nur ein Traum war, aber ich denke, dass meine Vision in nicht allzu ferner Zukunft wahr werden könnte, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das nun gut oder schlecht ist. Möchten Sie erfahren, was ich geträumt habe? Unser Zeitungsjunge George brachte mir meinen brandneuen, glänzenden P2p-121. Dieses Gerät ist ein Wunder der modernen Technik und besticht dank seiner glänzenden Metallic-Optik auch durch sein Design. In Größe und Aussehen ähnelt es einem kleinen Laptop. Als bekannt wurde, dass der P2p-121 in limitierter Stückzahl verkauft werden würde, sorgte das für viel Aufregung. Seriöse Wissenschaftler waren mehr als skeptisch: Sie sprachen von Scharlatanerie, die die Ergebnisse langer Studien in Bibliotheken und Archiven durch unausgereifte Theorien ersetzen würde, für deren Richtigkeit niemand garantieren könnte. Journalisten hingegen waren begeistert, da sie mit dem P2p-121 langweiliges und trockenes Material in spannende und publikumswirksame Live-Interviews verwandeln konnten. Anwälte warnten davor, dass die Verwendung des P2p-121 eine wahre Flut von Verleumdungsklagen zur Folge haben könnte. Koryphäen aus Funk und Fernsehen dozierten ausführlich über den möglichen gesellschaftlichen Schaden, wenn man mithilfe des P2p-121 die Bewerber für eine Stelle oder eine Versicherung, die Kandidaten für ein öffentliches Amt oder gar die Vergangenheit von Heiratswilligen oder Anwärtern für eine Adoption überprüfen würde. Aufgrund des großen Hypes war schnell klar, dass die Nachfrage das Angebot an Geräten bei Weitem übersteigen würde, also beauftragte ich George in der Schlange vor einem der Geschäfte zu warten, in denen der P2p-121 verkauft werden sollte. Er erklärte sich erst bereit, meiner Bitte nachzukommen, als ich ihm 10 Pfund pro Stunde bot, wenn man jedoch bedenkt, dass der arme Junge die ganze Nacht in der Kälte ausharren und gelegentliche Schauer ertragen musste, hat er sich das Geld redlich verdient. Das Prinzip, nach dem der P2p-121 arbeitet, ist einfach: Die meisten von uns entwickeln schon recht früh feste Verhaltensweisen im Umgang mit anderen Menschen, mit Ereignissen und Dingen. Dieses „Grundmuster“ hilft uns zum Beispiel dabei, auf Probleme besser reagieren zu können. Obwohl sie je nach Situation natürlich angepasst oder korrigiert werden, sind unsere Verhaltensweisen im Allgemeinen immer ähnlich und lassen sich recht gut vorhersagen. Ich sage bewusst „recht gut“, da sich in Bezug auf die menschliche Wesensart nie hundertprozentig sichere Angaben machen lassen, statistisch gesehen ist aber die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ähnliche Situationen ähnliche Reaktionen auslösen. Natürlich sollte man stets im Hinterkopf behalten, dass sich im Laufe des Lebens Einstellungen und Verhaltensweisen ändern. Und je weiter wir uns von dem Zeitpunkt entfernen, für den die Daten vorliegen, desto weniger kann für die Richtigkeit der Voraussage garantiert werden.
Der P2p-121 analysiert vergangene Entscheidungen und schlägt dann mögliche Verhaltensmuster für Situationen vor, über die wir entweder nicht genug wissen oder die frei erfunden sind. Er beantwortet also „Was hätte er getan, wenn …“-Fragen. Man könnte sagen, dass er unser Denken und unsere emotionalen Reaktionen so imitiert wie ein Schachprogramm das analytische Denken eines Schachmeisters. Nur dass er, eben wie ein gutes Schachprogramm, sehr viel schneller und effizienter arbeitet. Der P2p-121 kann also auf Wunsch befragt oder wie eine reale Person interviewt werden, wenn sie ihn mit den für die Analyse nötigen Daten beliefern. Und er verfügt über eine weitere technische Raffinesse: das Bildelement. Wenn von der Person, von der man etwas wissen möchte, geeignete Bilder zur Verfügung stehen, kann er den Eindruck entstehen lassen, dass man sich gerade die Aufzeichnung eines Interviews ansieht.
In meinem Traum fütterte ich den P2p-121 mit jedem Wort, das Howard Carter zwischen 1891, dem Jahr seiner Ankunft in Ägypten, und 1939, dem Jahr in dem er gestorben ist, geschrieben hat oder gesagt haben soll. Ich verwendete seine Tagebücher, die „biografischen Skizzen“ (wenn auch mit einiger Vorsicht, da Carter dazu neigte, sein Leben zu „überarbeiten“), die Briefe und seine Veröffentlichungen. Ich wählte den Albert Court in London und das Jahr 1938, also das Jahr vor seinem Tod. Als der P2p-121 hochfuhr und Carter auf dem Bildschirm erschien, war ich schockiert darüber, wie angegriffen er aussah, er schien nur noch ein Schatten seiner selbst zu sein. Verstand und Zunge waren jedoch so scharf wie eh und je.
F: „Guten Morgen, Mister Carter, ich danke Ihnen vielmals, dass Sie sich für dieses Interview Zeit genommen haben und mir erlauben, Ihnen einige Fragen zum Grab von Tutanchamun zu stellen, der bedeutendsten Entdeckung, die in Ägypten jemals gemacht wurde. Mir ist bewusst, dass Sie schon viele Male über dieses Thema gesprochen haben, Sie haben dazu ein dreibändiges Werk mit dem Titel ‚Das Grab des Tut-ench-Amun‘ veröffentlicht und viele Vorträge gehalten. Ich würde allerdings gern mit Ihnen über das Jahr 1924 sprechen.“
HC: „Aha … 1924. Ich verstehe nicht ganz, warum Sie mich unbedingt an diese schreckliche Zeit erinnern wollen. Können wir nicht über etwas Angenehmeres reden?“
F: „Ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht die Absicht habe, über Ihre damaligen Probleme mit der ägyptischen Regierung oder der Altertümerverwaltung zu sprechen. Ich möchte nur die Umstände genauer beleuchten, unter denen Sie damals den ‚Kopf auf der Lotusblüte‘ entdeckt haben.“
HC: „Schon wieder der Kopf! Ich habe doch in meinen Schriften schon alles erklärt und habe dem nichts hinzuzufügen. Manchmal wünsche ich mir wirklich, wir hätten das elende Ding nie gefunden. Sie verschwenden hier meine Zeit.“
F: „Mister Carter, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir kurz alle Fakten zu dem Kopf und seiner Entdeckung zusammenfassen könnten, um etwaigen Unklarheiten und Missverständnissen vorzubeugen. Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich etwas Falsches sage: Anfang 1924 legten Sie nach Ihrer Auseinandersetzung mit den Behörden die Arbeit im Grab nieder und veröffentlichten am 13. Februar im Winter Palace Hotel Ihre berühmte Bekanntmachung. Kurz danach verließen Sie Ägypten, um in England Ihre Vortragsreise durch Amerika vorzubereiten. In Ihrer Abwesenheit berief die ägyptische Regierung einen Ausschuss unter Pierre Lacau ein, dem Generaldirektor der Altertümerverwaltung, der eine Bestandsaufnahme aller Fundstücke aus dem Grab machen sollte. Am 30. März 1924 fand dieser Ausschuss im Grab von Ramses XI., dem Grab Nr. 4, den ‚Kopf auf der Lotusblüte‘, jedoch keine Aufzeichnungen zu seiner Entdeckung. Der Kopf befand sich in einer Weinkiste des Londoner Geschäfts Fortnum & Mason, 181 Picadilly Circus, und war nicht weiter gekennzeichnet. Einige Mitglieder des Ausschusses beunruhigte diese Entdeckung sehr und es wurde gemutmaßt, Sie hätten den Kopf verbergen und heimlich veräußern wollen. Auf der Kartei dieses Stückes vermerkten Sie nur bitter: ‚Als Zeichen meiner Integrität nach Kairo gesandt.‘ Können Sie mir dazu einige Fragen beantworten? Zunächst würde mich interessieren, warum der Kopf im Grab Nr. 4 gefunden wurde, obwohl Grab Nr. 15 als offizieller Lagerraum für die Fundstücke aus dem Grab Tutanchamuns genutzt wurde?“
HC: „Man hätte meinen können, dass Sie sich besser vorbereitet und diese Frage dann selbst hätten beantworten können. Der Kopf wurde im Geröll des Gangs gefunden, der die Treppe mit der tiefer liegenden Vorkammer verbindet. Dieser Gang wurde größtenteils am 25. und 26. November freigeräumt, kurz bevor wir am Nachmittag des 26. in Anwesenheit von Lord Carnarvon und Lady Evelyn die zweite versiegelte Tür aufbrachen. Bei der Beseitigung des Gerölls wurden mehrere kleine Objekte gefunden, denen ich die Nummern 5 bis 12 gab. Die meisten Nummern bezeichneten mehrere Objekte auf einmal, nur der Kopf bekam eine eigene Nummer, die 8. Auf der Karte sehen Sie den genauen Fundort im Gang: nicht weit entfernt vom Eingang zur Vorkammer, nahe der südlichen Mauer. Zu dieser Zeit stand das Grab Nr. 15 noch nicht als Lager zur Verfügung, daher haben wir diese Fundstücke im Grab von Ramses XI. mit der Nr. 4 aufbewahrt, das wir auch bei vorherigen Ausgrabungen im Tal schon genutzt hatten und das uns jetzt als Aufenthaltsraum diente. Der Kopf war mit Abstand das interessanteste Stück, das wir in dem Geröll gefunden haben und Callender und ich verbrachten einige Zeit damit, die abgefallenen Gipsstücke wieder zusammenzusetzen und den Kopf so gut wie möglich zu restaurieren. Allerdings waren wir damit noch nicht fertig, als wir am 26. November die Vorkammer öffneten und wir das wahre Ausmaß unserer Entdeckung erkannten. Danach wurde unsere Zeit durch andere Aufgaben beansprucht und leider haben wir es nie geschafft, den Kopf und die anderen Fundstücke aus dem Gang vollständig zu dokumentieren. Der Kopf blieb in seiner Kiste im Grab Nr. 4, bis er dort von dem Ausschuss gefunden wurde.“
F: „Und warum gerade eine Kiste von Fortnum & Mason, einem der teuersten Geschäfte in ganz London?“
HC: „Mein lieber Freund, wären Sie schon einmal bei einer Ausgrabung gewesen, dann wüssten Sie, dass sich Archäologen alle möglichen Materialien zunutze machen. Glauben Sie mir: Die Kisten von Fortnum & Mason, in denen teilweise unser Proviant geliefert wurde, eigneten sich hervorragend zur Aufbewahrung von Fundstücken. Harrods-Kisten übrigens auch.“
F: „Ich verstehe, Qualität spricht für sich. Entschuldigen Sie, dass ich jetzt so direkt frage, aber können Sie mir versichern, dass Sie niemals die Absicht hatten, den Kopf zu behalten? Und warum haben Sie ihn nie Rex Engelbach, dem Chefinspektor für die Altertümer, gezeigt oder ihm davon erzählt, wie Sie es mit den anderen Fundstücken aus dem Gang gemacht haben? Noch dazu haben Sie die Entdeckung des Kopfes weder am 25. noch am 26. November in Ihrem Tagebuch erwähnt, das verstehe ich einfach nicht.“
HC: „Sie müssen bedenken, dass all das geschah, bevor wir die Schätze im Inneren des Grabes entdeckten. Der Kopf wurde im Gang in einem Haufen Schutt gefunden und es besteht auch die Möglichkeit, dass er schon zu Zeiten der alten Ägypter ausgesondert wurde. Sicherlich war er im Vergleich zu den anderen Fundstücken aus dem Gang etwas Besonderes. Hätten wir einen Teil der Fundstücke behalten dürfen – und 1922 hatten wir noch Grund zur Annahme, dass dem so sei – hätte ihn Lord Carnarvon sicherlich gern in seine Sammlung aufgenommen. Meinen Sie nicht auch, dass er für seine jahrelangen Investitionen ohne nennenswerte Erfolge eine kleine Belohnung verdient hätte? Aber ich kann Ihnen mit größter Entschiedenheit sagen, dass ich persönlich an diesem Stück kein weiteres Interesse hatte. Ich erinnere mich nicht genau, wann und wo ich Engelbach die Funde gezeigt habe, vielleicht wurde der Kopf zu dem Zeitpunkt schon bearbeitet und separat aufbewahrt.“
F: „Ich verstehe. Es tut mir leid, dass ich hier weiter nachhaken muss, aber der erste Band von ‚Das Grab des Tut-ench-Amun‘, der im November 1923 – also noch vor dem Ärger mit dem Ausschuss – veröffentlicht wurde, enthielt kein Bild von dem Kopf. Tatsächlich haben Sie ihn auch nirgends erwähnt, obwohl Sie die anderen Fundstücke aus dem Gang detailliert auflisteten. Der Kopf erscheint erst im dritten Band, der 1933, also zehn Jahre später, veröffentlicht wurde. Warum? Damit lieferten Sie den Gerüchten, dass Sie ihn geheim halten wollten, doch weitere Nahrung.“
HC (ein wenig aus der Fassung gebracht und irritiert): „Schauen Sie, die Fundstücke aus dem Gang und damit auch der Kopf, befanden sich in einer kleinen Kammer im Grab Nr. 4 und gerieten bei der Aufregung nach der Graböffnung einfach in Vergessenheit. Hätte ich – und ich verwende hier ausdrücklich den Konjunktiv – den Kopf wirklich Lord Carnarvon als Andenken schenken wollen, dann hätte sich das doch nach dessen Tod am 5. April 1923 erledigt gehabt. Warum also hätte ich den Kopf dann weiterhin in Grab Nr. 4 aufbewahren sollen, wo er ein Jahr später vom Ausschuss gefunden wurde? Lacau, Engelbach und Edgar vom Ägyptischen Museum haben versucht, beim Ausschuss die Wogen zu glätten, indem sie andeuteten, dass der Kopf gar nicht aus dem Grab Tutanchamuns stamme und ich ihn ein Jahr zuvor für Lord Carnarvon bei einem Antiquitätenhändler gekauft hätte. Aber das entspricht einfach nicht der Wahrheit. Meinen Sie wirklich, dass ich dann so kurzsichtig gewesen wäre, ihn zur Ausgrabungsstätte zu bringen und dort zusammen mit den Fundstücken aus dem Gang aufzubewahren?“
F: „Ja, das verstehe ich. Aber, Mister Carter, wir erklären Sie sich, dass der Kopf überhaupt im Gang gefunden wurde und nicht im Grab? Wie kam er dort hin?“
HC: „Er muss von Räubern zurückgelassen worden sein. Es ist allgemein bekannt, dass in der Antike mindestens zweimal Grabräuber dort waren.“
F: „Aber Räuber waren doch nicht an Kunst interessiert und es ist schwer vorstellbar, dass sie die Büste allein wegen ihrer Anmut eingepackt haben, dann auf dem Weg nach draußen ihre Meinung änderten und sie schließlich doch zurückließen, oder?“
HC: „Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass Tutanchamuns Ohren durchstochen sind? Aber wo sind die Ohrringe? Es ist recht wahrscheinlich, dass die Räuber erst den ganzen Kopf mitgenommen haben, dann die goldenen Ohrringe abrissen und den für sie wertlosen Kopf auf dem Weg nach draußen wieder weggeworfen haben.“
F: „Ja, das klingt logisch. Aber warum haben die Wächter der Totenstadt nach dem Raub den Kopf nicht wieder zurück ins Grab gebracht?“
HC: „Vielleicht wurde der Kopf erst bemerkt, als der Gang mit Geröll gefüllt wurde, um weitere Raubzüge zu verhindern. Zu dem Zeitpunkt war es dann aber schon zu spät, da die Vorkammer bereits versiegelt war. Daher wurde der Kopf an seinem Fundort gelassen.“
F: „Mister Carter, ich danke Ihnen für Ihre Erklärungen.“
Das ist also das Interview, das so nie stattgefunden hat. Ich kann natürlich nicht dafür garantieren, dass die Angaben meines P2p-121 alle stimmen oder die Erinnerung an meinen Traum hundertprozentig richtig ist. Ich muss zugeben, dass meine Bedenken nicht komplett zerstreut wurden. Howard Carter war eine komplexe Persönlichkeit, ein Eigenbrötler und möglicherweise nicht ganz ohne Fehler. Angesichts seiner Position und des zeitlichen Kontextes, lässt sich jedoch zweifelsohne sagen, dass er ein ausgezeichneter und prinzipientreuer Archäologe war. Er tat, was er für richtig hielt, ohne sich um die Konsequenzen zu kümmern. Ohne seine Hartnäckigkeit wäre der größte Fund in der Geschichte der ägyptischen Archäologie niemals vollständig dokumentiert worden. Deshalb stehen wir für alle Zeit tief in seiner Schuld.
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